Was es hierzulande ja gar nicht mal so oft gibt: Vieldeutigkeit im Pop. Wir Deutschen singen, sagen und erklären schon wirklich sehr gerne ganz genau, was gemeint ist. Und zwar so, dass es auch der letzte versteht. Präzision wird eben hoch geschätzt im Land der Ingenieure. Das ist ehrenhaft, führt im Zusammenhang mit Musik aber oft zu Vorhersehbarkeit und schwer pädagogischem Unterton.
Insofern ist es gut, dass es auch Songschreiber und Sänger wie Tristan Brusch gibt. Der 34- Jährige gehört jener raren Spezies von Sängern an, die den spielerischen Umgang mit eindeutig-vieldeutigen Metaphern in Liedtexten bravourös beherrscht. Bei Tristan Brusch bedeutet ein Song immer ganz genau das, was er für die Hörerin oder den Hörer im Moment des Hörens bedeutet, also theoretisch mehr oder weniger alles. Die höchste Kunst überhaupt.
Zur Perfektion führte er diesen Umgang mit der angeblich so schwierigen deutschen Popsprache bereits 2021 auf seinem letzten Album "Am Rest", mit dem direkten Nachfolger "Am Wahn" gibt er seiner Dichtkunst nun endgültig den letzten Schliff. Brusch hat verstanden: Im Pop geht es niemals nur um die Worte, die man singt, sondern immer um die Mischung aus Vortrag, Text, Melodie, Instrumentierung und Arrangement. Erst aus all diesen Komponenten formen sich letztlich Temperatur und Bedeutung eines Songs. "Wenn ich in meiner Musik etwas ganz Eindeutiges sage, schäme ich mich regelrecht, weil ich damit automatisch so viele Sichtweisen ausschließe", sagt Tristan Brusch. "Ich finde es viel interessanter, nicht auf die Nase gebunden zu bekommen, wie man sich zu fühlen hat und also die Reaktion auf ein Lied in der Person selbst entstehen zu lassen." Verhallte Klaviertöne, eine unheilvoll dräuende Akustikgitarre, sich tückisch aus dem Hintergrund anschleichende Streicher: Das neue und insgesamt dritte Tristan Brusch-Album "Am Wahn" beginnt mit der klaustrophobischen Note der zweiten Single-Auskopplung "Wahnsinn mich zu lieben". Ein Irrsinn von einem Song: dezent chansoneske Strophen wechseln auf dramatisch anschwellende Orchesterparts, ein Stück, in dem gleichzeitig so viel Verzweiflung und so viel Grandezza liegt, dass man es kaum mit einem Mal erfassen kann. "Erwartungen haben noch nie genutzt/Selbst wenn sie sich erfüllen", singt Tristan Brusch ? die verdammte Liebe in all ihren Schattierungen!
"Wenn ?Am Rest? ein Trennungsalbum war, geht es auf ?Am Wahn? um eine eher schädliche Beziehung", sagt Tristan Brusch, "man denkt, man erlebt die Liebe, ist aber eigentlich nur im Wahn". Eine hypertoxische Liebe also, die Brusch auf diesem Album in allen Facetten umgarnt, auslotet, erforscht, beschreibt. Verzweifelnd, wissend, angewidert und am Ende meistens doch: voller Liebe und Hingabe.
Nachdem Brusch die neuen Lieber daheim auf der Akustikgitarre geschrieben und mit dem Smartphone aufgenommen hatte, begab er sich abermals in die Hansa Studios zu dem Produzenten Tim Tautorat, um "Am Wahn" dort gemeinsam mit dem Schlagzeuger Marcel Römer, dem Bassisten und Pianisten Felix Weigt, dem Bassklarinettisten und Tenorsaxofonisten Damian Dalla Torre und dem Saxofonisten Ralph Heidel einzuspielen. Vorab hatte der bewährte Partner Tautorat ? mit dem Produzenten hatte Brusch bereits "Am Rest" aufgenommen ? die Stücke indes einer Veredelungskur unterzogen: "Ich hatte kein eigenes Studio mehr und habe mich deshalb bewusst zu einer anderen Strategie als beim letzten Album entschieden", so Brusch. "Die Idee war, Tim einfach nur die iPhone-Demos zu übergeben und ihn den Rest machen zu lassen. Ich kann ein ziemlicher Kontrollfreak sein und verliere mich bisweilen in Details. Deshalb wollte ich die Kontrolle hier ganz bewusst abgeben."
Es wurde dann aber natürlich doch etwas komplizierter, als der Musiker sich das vorgestellt hatte: "Anfangs dachte ich, die Produktion erledigt sich wie von selbst", sagt Brusch, "aber das war womöglich zu naiv." Es wurde dann also doch ein ziemlicher Parfourceritt und gab auch mal eifrige Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten zwischen Produzent und Musiker, aber letztlich ist das besondere Experiment des Tristan Brusch voll und ganz aufgegangen. Es gibt ja diesen alten Spruch, man erkenne die Qualität eines Songs daran, dass man ihn mit der Akustikgitarre am Lagerfeuer spielen könne. Auf Tristan Brusch und "Am Wahn" gemünzt muss es nun lauten: Songs, die auf dem iPhone funktionieren, sind so gut, dass sie überall funktionieren.
Die erste Single "Oh Lord" ist ein wild torkelnder Chanson-Gospel nach Brusch-Art, bei dem wehmütigen "Kein Problem" denkt man kurz an "A Whiter Shade of Pale", ehe sich der Song zu einem bestürzend ergreifenden Duett mit der großartigen Annett Louisan entwickelt. "Mirage" ist beinahe Italo-Pop, "Wieder eine Nacht" eine niederschmetternd schöne Ballade, "Monster" wirbelt Staub auf wie die besten Stücke von Lee Hazlewood und besticht durch das wild oszillierende Saxofon von Damian Dalla Torre. Die Hingabe, mit der Tristan Brusch sich in seinen Vortrag wirft, ist ergreifend, weil sie wahrhaftig ist und keiner Pose entstammt.
Dieser Lieder sind himmelhochjauchzend zu Tode betrübt und gleichzeitig wahnsinnig erhaben und stolz, weil sie das Leben in allen Facetten kennen und keine Schönfärberei betreiben. Jacques Brel oder Serge Gainsbourg kommen einem in den Sinn und dazu schwelgen und wimmern die Streicher wie in den großen Tagen des europäischen Schlagers und Chansons. Man denkt aber auch an Scott Walker und ein bisschen an Element of Crime, weil Bruschs assoziativ freie Art zu texten der von Sven Regener nicht unähnlich ist, wenngleich Brusch deutlich deftiger zu Werke geht.
Vor allem denkt man bei dieser Musik ohnehin an Tristan Brusch selbst, und an die beeindruckende Entwicklung, die dieser Mann genommen hat. Wie der in Gelsenkirchen geborene und in Tübingen als Kind einer hochmusikalischen Familie aufgewachsene Brusch sich in den Jahren seit seinen ersten EPs und dem Debüt "Paradies" zu einem der mitreißendsten und wirkmächtigsten deutschen Songschreiber, Chansoniers und Performer entwickelt hat, gehört zu den inspirierendsten und tollsten Popgeschichten der vergangenen Jahre.
Tristan Brusch ist ein hoffnungsloser Romantiker. Aber einer, der die Abgründe des Lebens kennt. Brusch weiß: Angst ist keine gute Basis für radikale, gute Kunst. Weder scheut er die große Geste, noch das Gediegene, Sakrale, Epische, Brusch stürzt sich wagemütig in jedes Getümmel. "Bei vielen grundsätzlich ähnlich gelagerten Songschreibern in Deutschland würde man niemals auf die Idee kommen, das Wort Schlager in den Mund zu nehmen", sagt Brusch. "Bei mir schon ? und ich weiß auch, woran das liegt. Mein Vortrag ist dramatischer, mich interessiert einfach die große Geste. Diese beinahe transzendente Wahrheit in guten, klassischen Schlagerstücken begeistert mich, in cooler Musik findet man das nicht unbedingt."
Das soll nun allerdings nicht bedeuten, dass Tristan Brusch sich nicht mit cooler Musik auskennt, ganz im Gegenteil: Sein neuer Song "Am Herz vorbei" basiert auf dem Stück "You Missed My Heart" von Mark Kozelek (Sun Kil Moon). Brusch hat die Lyrics übersetzt, oder besser: adaptiert, dabei einige Dinge geändert und eine neue Musik für diesen Text geschrieben. "Dieser Song hat mich so berührt, als ich ihn gehört habe, dass ich gar nicht anders konnte, als ihn einmal zu übersetzten", sagt Brusch, "und als ich dann einen eigenen Text hatte, hab ich gedacht: Jetzt ist es auch ein bisschen meins." Das Stück ist eine nicht ganz unproblematische Wahl, dessen ist Tristan Brusch sich absolut bewusst. Mark Kozelek steht im Zentrum einer regelrechten Serie von #MeToo-Fällen im US-amerikanischen Indie-Rock und in dem Song "You Missed My Heart" beschreibt er einen aus Eifersucht begangenen Femizid. Das auf wohlig-romantische Weise verzweifelte "Am Herz vorbei" nun mit diesem Hintergrundwissen zu hören, erzeugt ein nahezu widerliches, kaum auszuhaltendes Gefühl der Beklemmung.
Dann stellt man fest, dass Tristan Brusch "Am Herz vorbei" in seiner Übersetzung im Ungefähren hält und die allzu expliziten Details ausspart, das Ende lässt er halbwegs offen. Indem Tristan Brusch hier also einmal mehr einen Widerspruch aushält und in große Kunst überführt, gelingt ihm auf diese Weise eine wunderbar poetische Studie über toxische Männlichkeit.
Das Album endet mit schließlich mit "Theo". Ein trauriges Lied für einen endlosen Winter der Hoffnungslosigkeit, das gleichzeitig Trost spendet. So lange wir Alben wie "Am Wahn" haben, sind wir nicht allein. (Text: Presseinfo)