Okay, geschenkt: Friedfertig umarmt haben Turbostaat ihre Hörer*innen auf musikali- scher Ebene Zeit ihres Bestehens ohnehin nie. Da war immer mehr Understatement und nordfriesische Nüchternheit als Charmeoffensive oder Frohmut, immer mehr Sehnsucht als Wohlbehagen, immer mehr Krach, wirre Worte und bärbeißige Mine zum bösen Spiel als gut gelaunter Humbug. Turbostaat-Musik, das ist Punkrock, dem Wattenmeer-Nebel in den Lungen hängt - seitdem sich die Band 1999 in der schleswig-holsteinischen Provinz formiert hat und auch ein Vierteljahrhundert später. Erst kürzlich - im Spätherbst 2024 - haben Marten Ebsen, Jan Windmeier, Rollo Santos, Tobert Knopp und Peter Cars- tens den fünfundzwanzigsten Geburtstag ihres zur Lebensgemeinschaft gewordenen Bandprojekts gefeiert. Im Zuge dieses Jubiläums wurde die komplette Turbostaat-Disko- grafie auf Vinyl re-released und mittels einer ambitionierten Konzept-Tournee in acht aus- verkaufte Konzertsäle der Bundesrepublik getragen. Ein Quäntchen Nostalgie und Blick in den Rückspiegel will erlaubt sein - ein Quäntchen mehr dann aber auch wieder nicht. Im Turbostaat?schen Gebälk tobt infolge harter, von Krankheit, Konzertausfällen und Gesamtscheiße gezeichneter Jahre zu viel "Alter Zorn". Frei nach dem Motto "Es geht nichts mehr, es geht nichts mehr, doch gar nichts ist vorbei" war da einfach kein Platz für Rekapitulationen, Grown-Man-Punk oder ein abgeschmirgeltes ?früher war alles bes- ser?-Album. "Alter Zorn" wurde produktionsseitig einmal mehr von Moses Schneider be- treut und fühlt sich an wie ein reinigendes Gewitter in zwölf Akten: Kaum beherrschbar, hektisch, unverbraucht, aufgewühlt, schwarzmalerisch, stellenweise beinahe schaurig. Turbostaat-Mollmusik klingt, wie Turbostaat-Mollmusik klingt; das ist auch auf "Alter Zorn" so - nur hallen die schroff flatternden Riffs schlecht gelaunter, die Bassspuren har- moniezerberstender, die staubigen Rumpeldrums dumpfer, die Disharmonien forcierter und die Brüche im Sound radikaler denn je nach. Die einmal mehr von Gitarrist Marten verfassten und von Sänger Jan mit altbekannter Akzentuierung herausgeschrienen Lyrics werden hin und wieder beinahe von kontrapunktischen zerrenden Gitarrenwänden übertönt, Snare-Schläge erinnern zeitweise an bretternden Kugelhagel, in den Song-Dra- maturgien wohnt Anarchie.
"Alter Zorn" fordert heraus - und zwar nicht zuletzt deshalb, weil es großteils im heraus- fordernden Jetzt zu spielen scheint und eine klammkalte Dystopie andeutet, die der Re- alität dramatisch ähnlich sieht. Wie inzwischen bekannt sein dürfte, sind Turbostaat keine Hymnenschreiber, keine Parolenklopfer, keine Klartexter - sondern Meister der poeti- schen Verschleierung, der konfusen Assoziationsketten und Metaphern, der verqueren Verkopftheit, der märchenhaften Düsternis. "Alter Zorn" macht wie alle sieben Vorgän- geralben vom Umstand Gebrauch, dass es - wie im von Turbostaat-DNA durchsetzten Stück "Scheissauge" festgehalten - mindestens fünfzig Synonyme für ?grau? und ?fahl? gibt. Der elementare Unterschied zu den Lyrics auf Platten à la "Abalonia" oder dem zuletzt erschienenen "Uthlande"? Ein kaum erwartbarer Kulissenwechsel! Die Turbostaat-typischen, kryptisch-fragmentarischen Geschichten aus den Leben wechselnder "Er"?s und "Sie"?s spielen diesmal nur selten im Turbostaat-typischen, einsiedlerisch- maritimen Husumer Terrain. Trotz Ausreißern Marke "Den Annern sin Uhl" und platt- deutsch-seemännischem Duktus ist "Alter Zorn" ein Großstadtalbum - und zwar das erste in fünfundzwanzig Jahren bewegter Bandgeschichte.
Wo sonst Möwen, Wattenmeer-Nebel und graue Weiten waren, verdecken nun Tauben- schwärme, endzeitlich versmogte Betonburgen und eine gottverdammte Bismarck-Statue, die dem Szeneviertel ihren metergroßen Arsch entgegenstreckt, die Sicht auf alles Schöne. "Alter Zorn" blickt auf die "Affenstraße", auf verwahrloste Eckkneipen, in der sich düstere Schatten stapeln, auf "Ruinen zwischen Glas und Stahl", auf Metropolen voll "greller Sommerkotze" und Spiegelscherben, die immer enger werden - und nur selten starr auf?s offene Meer. Was den schwammigen Protagonist*innen des Turbostaat- Universums dennoch geblieben ist, ist die bohrende Einsamkeit - dieses wütend-resig- nierte Gefühl, es nicht zustandezubringen, "hier mitzumarschieren". Wie bereits er- wähnt, zeichnet "Alter Zorn" eine Dystopie - eine Welt zwischen Novembergicht und Hitzestau, in der sich tote Schwäne im Graben stapeln, Panzer rollen, die Luft knapp wird, Obdachlose die Straße umarmen, alle alles mit Karte bezahlen, in Ledersitzen zittern, die Laune im Arsch und überhaupt "wirklich Sense" ist.
Wo "Kokain, Edelstein, Plastik und Zucker", Krankheit, Schmerz und "Nachtschimmel", Zombies mit Fell im Maul, starrgefrorenen Fingern und quittengelber Haut, "Forschung an Mensch und Masche" und künstliche Intelligenz, entsättigt-leere Nachtträume und mausetote Tage die Szenerie bestimmen, lesen sich Bibelverse auf Porzellan nur noch wie schlechte Witze. Wo alles marode oder längst verwelkt ist, sind aufbrausender "Alter Zorn" und Galgenhumor durchaus angebracht, ja, vielleicht sogar notwenig. "Nur ein Schiss im Meer, doch er schwimmt dir hinterher", heißt es im melancholisch-aufbrausen- den und zum letzten Drittel hin geradezu explodierenden Albumfinale "Jedermannsend" - ein Kernstück der LP, das sich offensiv und eigenwillig mit dem Prozess der Trauerbewältigung beschäftigt. "Jedermannsend" bündelt, was "Alter Zorn" so besonders, so nachdrücklich, so unüberhörbar macht: Diese seltsame Gleichzeitigkeit von Kapitulation und Aufbruch, umfassender Ermüdung und beinahe adoleszentem Dynamismus. Dem jungen Moses Schneider in abgerockter Lederjacke hätte diese Platte gewiss gefallen. "Alter Zorn" erscheint am 16.01.2025 und wird am selben Tag in der Hamburger Markthalle uraufgeführt. (Text: Presseinfo)